S. Dietl: Transformation und Neustrukturierung des DDR-Rundfunks im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands

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Titel
Transformation und Neustrukturierung des DDR-Rundfunks im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands. Akteure, Interessen, Prozesse


Autor(en)
Dietl, Sylvia
Reihe
Beiträge zur Politikwissenschaft (20)
Erschienen
München 2022: utzverlag
Anzahl Seiten
662 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Behmer, Institut für Kommunikationswissenschaft, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Einen „dicken Brocken“ hat Sylvia Dietl mit ihrer 2019 an der Universität Düsseldorf eingereichten, nun als Buch publizierten politikwissenschaftlichen (doch von dem Kommunikationswissenschaftler Gerhard Vowe betreuten) Dissertation vorgelegt, schon rein formal: mit weit über 600 eng bedruckten Seiten, zehn Haupt- und mehr als 300 Unter- und Unterunterkapiteln sowie 1.713 Fußnoten. Eine Fleißarbeit, wie auch das 44-seitige Quellen- und Literaturverzeichnis eindrucksvoll dokumentiert. Unterlagen aus diversen Archiven, Dokumentationsstellen, Staatskanzleien, Verhandlungsprotokollen und Sitzungsunterlagen, Konzeptpapieren und Presseberichten wurden ausgewertet, Expertengespräche geführt, Interviews und Reden beteiligter Akteure und Akteurinnen analysiert.

Manche werden auch inhaltlich schwer an diesem Brocken zu schlucken haben, fällt das Fazit über den Transformationsprozess des Rundfunks der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hin zu öffentlich-rechtlichen Strukturen (der privatwirtschaftliche Rundfunk findet nur nebenhin Beachtung, gab es da ja nichts zu transformieren, nur zu implementieren), doch geradezu vernichtend aus. So stellt Dietl in ihren – sehr knappen – „Schlussbemerkungen“ fest, dass ein „kritikloser Systemtransfer“ erfolgt sei, der „die ‚tradierten‘ Defizite des bundesdeutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems in die neuen Anstalten übertragen und teils sogar noch verstärkt hat zum Nachteil eines unabhängigen Rundfunks“ (S. 613). Es hätte „von den politischen Akteuren eine gestaltende Politik […] eingefordert werden müssen, die einer freiheitlichen Demokratie nützt und sie nicht untergräbt“ (ebd.).

Verpasste Chancen also. Schlimmer noch: Machtkalkül und die Durchsetzung von Eigeninteressen hätten verhindert, dass ein echter Neuanfang auch nur versucht worden wäre; Reformstimmen und Gestaltungsimpulse ostdeutscher Akteure seien schlicht nicht wahrgenommen worden oder zur Geltung gekommen. Durchgesetzt hätten sich mithin genau diejenigen, die ein persönliches Interesse daran hatten, die Strukturen und Institutionen des West-Rundfunks auch im Osten zu installieren, Leute aus dem öffentlich-rechtlichen System selbst und die „politisch-administrativen Akteure“, die „vor allem macht- und parteipolitische sowie teils standortpolitische Ziele verfolgten“ (S. 613.). Wer diese „handelnden Akteure“, vielmehr Profiteure im Einzelnen waren, das wird in nuce im (gleichfalls knappen) Fazit, das eher tabellarisch auflistet statt resümiert, angeführt.

Im sehr langen Hauptteil der Studie zeichnet Dietl akribisch und fakten- wie aktengesättigt nach, wie dieser – nach ihren Befunden und gemessen an der Zielvorstellung, eine wahrhaft demokratische und allein dem Gemeinwohl verpflichtete Rundfunkordnung zu etablieren, gescheiterte – Transformationsprozess ablief. En détail werden zunächst die historischen und rechtlichen Rahmenbedingungen dargestellt, dann die einzelnen Schritte des Transformationsprozesses weithin chronologisch (vor allem von Oktober 1989 bis Ende 1991) nachgezeichnet. So wird beispielsweise zunächst auf 75 Seiten beschrieben, welche Interessengruppen sich in der Auflösungsphase der DDR bis zur letzten Volkskammerwahl am 18. März 1990 gegenüberstanden und welche Strategien sie wie umzusetzen suchten. Oder es werden später, auf mehr als 140 Seiten, Grundlagen, Konzepte und Entscheidungen der gemäß dem Einigungsstaatsvertrag mit der Transformation des Rundfunkwesens beauftragten „Einrichtung“ nachgezeichnet. Allein die Wahl Rudolf Mühlfenzls zum Rundfunkbeauftragten, mithin Leiter der „Einrichtung“, und die Darstellung seiner Funktionen nimmt 20 Seiten ein, der rechtliche und institutionelle Prozess zur Etablierung von Mitteldeutschem Rundfunk (MDR) und Ostdeutschem Rundfunk Brandenburg (ORB) rund 50 Seiten – und so fort.

Nicht allein die Breite der Schilderung ist beeindruckend – die Studie ist durchweg sehr „dicht“ geschrieben –, sondern auch die Tiefe der Analyse. Den theoretischen Rahmen bildet dabei der „akteurszentrierte Institutionalismus“; gemeint ist damit insbesondere das „beobachtbare Handeln“ (S. 45) aller Involvierten und der institutionelle Rahmen, in dem sie agieren. Er wird kombiniert mit einem gleichfalls gründlich dargestellten Phasenmodell des Systemwechsels aus der Transformationsforschung.

Eine der interessantesten Detailfragen ist dabei, welchen „Gestaltungsraum und welche daraus sich ergebenden Handlungsoptionen […] die medienpolitischen Akteure im Verlauf des Transformationsprozesses“ (S. 22) hatten – und wie sie ihn nutzten. Gab es also Alternativen? Nun, mindestens Alternativvorstellungen – so etwa einen medienpolitischen „Zehn-Punkte-Plan“, vielmehr ein im Dezember 1989 von den journalistischen Berufsverbänden der DDR, dem Ost-Schriftstellerverband und der Akademie der Künste ausgearbeitetes Thesenpapier für ein neues Mediengesetz. Dadurch sollten die „Schwächen des westdeutschen Vorbilds [...] keinesfalls installiert werden“ und das „zentralistische Mediensystem [...] einen wahrhaft demokratischen Wandel erleben“ (S. 155), unter anderem mit der spannenden Idee eines unabhängigen Medienrates als eine Art Appellationsinstanz gegen staatliche Eingriffe. Umgesetzt wurde es nicht.

Sicher war auch das Vorgehen der „Einrichtung“ nicht alternativlos, was aber in den turbulenten Monaten und frühen Jahren der Wende- und Nachwendezeit hätte anders umgesetzt werden können (und wie), dazu wären noch tiefergehende Reflexionen durchaus zu wünschen. Details wie etwa das genannte Thesenpapier, Schilderungen auch, wie die „umarmende[n] Zugriffe“ (S. 200) aus dem Westen genau stattfanden, wie um kleine Formulierungen in Satzungen gerungen wurde, wie die Rolle der Bundesrundfunkanstalten ausgehandelt wurde etc. machen die so umfängliche Arbeit – neben dem großen Rahmen, den sie bietet – aber auch so sehr lesenswert. Prägnante Zwischenresümees, die immer wieder auch klare Bewertungen bieten, erleichtern die komplexe Lektüre.

Was hier vorliegt, ist eine beeindruckend materialreiche und wohlstrukturierte Dokumentation, die auch als Nachschlagewerk gut geeignet ist (wenngleich dafür ein Register wünschenswert wäre) – mit einem bitteren Kurzresümee: Es ist die Chronik eines Scheiterns. Oder vielmehr die Schilderung eines Paradoxons, nämlich eines erfolgreichen Scheiterns. In beeindruckend kurzer Zeit wurde das DDR-Rundfunksystem in öffentlich-rechtliche Strukturen überführt – oder abgewickelt, weniger transformiert, denn nach westdeutschem Muster in den neuen Bundesländern neu etabliert. Chancen, Neues zu entwickeln, das gegebenenfalls auch für das Alte im Westen neue Impulse hätte geben können, wurden nicht genutzt. Pragmatismus überwog, – wenn nicht gar, so legt Dietl wohl unterfüttert nahe, die Durchsetzung von Eigen- oder Partikularinteressen.

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